Mhm? Was? – Die Kunst des Nachfragens
Die Technik vermag inzwischen Grossartiges zu leisten. Höranlagen, Implantate und Hochleistungshörgeräte helfen Menschen mit einer Hörbehinderung bei der Bewältigung ihres Alltags. Dennoch bleibt das Gehör in seiner Funktion beeinträchtigt. Und die Frage, welche den Betroffenen tagtäglich am meisten über die Lippen kommt, ist und bleibt wohl das „Was?“ oder das „Wie bitte?“. Denn wer schlecht hört, muss nachfragen.
Selbstbewusst stören
Das fällt nicht immer leicht. Nachfragen stört. Hörbehinderte unterbrechen vielfach den Gesprächsfluss, hemmen den lebendigen Austausch ihres Umfeldes. Es braucht ein gehöriges Mass an Überwindungskraft, auf das Verstehen-Wollen hinzuweisen. Denn die eigenen Bedürfnisse sind relevant. Dazu zählt der Wunsch nach Beteiligung und Zugehörigkeit. Nur dabei zu sein und schweigend zuzuhören ist für Menschen mit einer Hörbehinderung oftmals eine schlechte Option.
Noch schlimmer: Häufiges Nachfragen wird rasch mit mangelnder Intelligenz verknüpft. Im Sinne von: „Der/die begreift es einfach nicht.“ Dies erschwert es vielen Betroffenen zusätzlich, im Alltag zu ihrer Hörbehinderung zu stehen. Das Nachfragen und das Bitten um Wiederholung fällt so noch schwerer.
Ein offener und selbstbewusster Umgang mit dem eigenen Handicap ist hier entscheidend. Mittel- und langfristig ist es immer von Vorteil, auf die eigene „Schwäche“ hinzuweisen, insbesondere bei vertrauten Menschen. Denn dies wird meistens ohnehin bemerkt werden und nicht selten sogar als Vertrauensbeweis gewertet.
Mhm?
Nachfragen sollten nicht entschuldigend sein. Ein „Entschuldigung, was haben Sie…?“ ist zwar eine höfliche Einleitung, gleichzeitig allerdings auch immer ein Stück weit unpassend. Es ist so wie es ist. Dafür muss sich niemand entschuldigen.
„… atta ei Quaff…automat!“ Allzu schnell ist es passiert. Da waren Worte, vermutlich sogar ein ganzer Satz. Die Kollegin ist aber schon zur Tür hinaus geschwirrt. Zurück bleibt ein verwirrter hörbeeinträchtigter Mitarbeiter und zahllose Fragezeichen. Was nun? „Automat“?
Würde sich dieselbe Situation mit einer Kollegin ereignen, welche weniger schnell aus der Tür hinaus ist, ist es sinnvoll, nach dem Gesagten zu fragen: Ein „Wie bitte?“ führt sicherlich in den meisten Fällen bereits zum Erfolg und in diesem Fall zur Information, dass die anderen beim Kaffeeautomaten auf unseren Mitarbeiter warten.
Intelligentes Nachfragen
Wenn wir unserem hörbehinderten Mitarbeiter nun zum Kaffeeautomaten folgen und er sich dort, so gut es ihm möglich ist, am Pausengespräch beteiligt, wird sicherlich recht schnell die nächste Situation entstehen, wo ihm eine wichtige Information zu entgehen droht. Diesmal ist er sich jedoch recht sicher „…am besten schon 10 vor 12 Uhr“ verstanden zu haben.
Ein „Was?“ oder „Wie bitte?“ empfiehlt sich nun allerdings nicht. Allzu oft wird daraufhin genau der gleiche Satz in genau dem gleichen Tonfall nochmals wiederholt, was oftmals zur genau gleichen Verstehens-Leistung führt. Nämlich, dass irgendetwas am besten kurz vor 12 Uhr passiert. Besser beraten wäre unser Mitarbeiter hier mit einer Rückfrage, welcher den verstandenen Teil direkt berücksichtigt: Zum Beispiel „Was ist um 10 vor 12 Uhr?“ oder „Das habe ich nicht verstanden. Was passiert um 10 vor 12 Uhr?“ Die darauffolgende Antwort wird eine andere sein, was die Wahrscheinlichkeit beträchtlich erhöht, den gesamten Satz zu verstehen. Auch wird den Kollegen Arbeit abgenommen, indem sie nicht mehr die gesamte Aussage in ihrer gesamten Länge wiederholen müssen. Nicht zuletzt, lernen die Mitmenschen im Laufe der Zeit das Hörvermögen der hörbehinderten Person immer besser kennen. Sie haben so langfristig die Möglichkeit, sich genauer auf dieses einzustellen und ihre Kommunikation entsprechend anzupassen. Bei vertrauensvollen und engen Beziehungen geschieht dies häufig unbewusst und automatisch.
Nachfragen zu können ist wichtig. Es gibt kaum eine Alternative für Hörbehinderte, um Nicht-Verstandenes in Erfahrung zu bringen. Dies erfordert jedoch Mut und Überwindungskraft, andernfalls entstehen schnell deutliche Nachteile im Alltag. Informationen gehen verloren, Missverständnisse treten auf, Termine kommen nicht zustande. Menschen mit einer Hörbehinderung laufen Gefahr, sich zunehmend zurück zu ziehen. Ängste vor peinlichen und beschämenden Situationen können diese Isolation noch verstärken.
Abschliessend wollen wir unserem hörbeeinträchtigen Arbeitnehmer noch ein letztes Mal über die Schulter schauen: Dieser sitzt inzwischen mit seinen Kollegen und Kolleginnen an einem schönen Terrassentisch in der Sonne. Sie hatten sich vor der Mittagspause getroffen, bereits 10 vor 12 Uhr, um einen guten Platz zu bekommen. Und unser Mitarbeiter war pünktlich gewesen.
Seine Nachfrage hat sich gelohnt.
© Silvio Zgraggen, Dipl. Psychologe
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